Spiezer Infomesse 60plus 2022
«Beweglich sein- beweglich bleiben» – Warum hat man zu diesem Thema einen Pfarrer eingeladen? Es gibt viel, das längst alle wissen: Es ist gut für Leib und Geist, mit Gipfeli und Speck, Schnäpsli und Cüpli vorsichtig zu sein. Es ist gut, alles von Hand und zu Fuss zu machen, ständig in Bewegung zu bleiben. Unsere Zellen in Rücken und Knie bleiben so gesünder, aber ist nicht mein Fach. Dement will niemand werden, darum sollte man sich geistig anstrengen und bis ins hohe Alter lernen, lernen, lernen. Das sagt die Neurobiologie, aber ist auch nicht mein Fach. Unsere Zeit ist bedenklich materialistisch. Alles dreht sich um die Zellen, die funktionieren, in Knie und Hirn. Man könnte meinen, Zellen seien alles, was wir sind und haben. Da kommt mein Fach ins Spiel. Natürlich ist lebenswichtig, dass die Zellen funktionieren. Aber ich bin mehr als nur meine Zellen. Ich bin Geist, momentan mit einem Körper. Mein Körper ist mein Reittier. Sicher ist das Reittier wichtig, man soll es pflegen und bewegen. Aber wohin will der Reiter? Das ist doch die wichtige Frage. Was ich euch heute sage, sage ich vor allem mir selbst. Wohin will ich, mein Ich, mein Geist oder meine Seele? Wohin will der Reiter? Der Titel meines Kurzvortrags heisst.
Mein Vater wurde 99, beneidenswert gesund. Aber mit 95 sagte er: «Schau uns an, uns alle in diesem Altersheim. Wir hocken nur da und warten, bis es chlöpft.» Warten auf den Tod. Seit seiner Pensionierung hatte er kein Ziel mehr. Oh, er lebte wie alle: Hie ein Festli, da ein Reisli, täglich ein Kreuzworträtsel. Aber er hockte nur noch sein Leben ab. Er tat mir leid, ich konnte nicht recht helfen. Irgendwie war es zu spät. Wenn man Jahrzehntelang nur den Körper ernst nimmt, nur irdisch-materielle Zielen nachjagt, verkümmert der Geist und wird unleserlich, undeutlich.
Bei Petrus an der Himmelstür steht einmal nicht der Körper, sondern der Geist. Wie soll mein Geist dann aussehen? Die Römer wussten: In einen gesunden Körper gehört ein gesunder Geist. Mens sana in corpore sano. Wie soll mein Geist einmal sein, mein Charakter, meine Persönlichkeit? Dazu schlage ich euch ein geistiges Ziel vor: Weisheit. Leider habe ich dafür noch kein träfes berndeutsches Wort gefunden. Man könnte natürlich auch sagen «Liebe», aber dieses Wort ist bedenklich abgelutscht. Bleiben wir bei Weisheit.
1. Was ist Weisheit?
In der Bibel gibt es den grossen Weisen, König Salomo. Er hörte Gott im Traum: «Sprich eine Bitte aus, die ich dir gewähren soll.» Du darfst etwas wünschen: Wohin willst du eigentlich? Was ist dein Ziel? Salomo gab die berühmte Antwort: «Gib mir ein hörendes Herz». Weisheit ist nicht «Gescheitheit», Intellekt, grosses Wissen oder Knowhow, Wissen-Wie-Angattigen. Weisheit ist intuitives Begreifen der geheimen Zusammenhänge des Lebens, ein liebevoller Charakter und ein entsprechendes Verhalten. Weisheit kann nicht eingekauft werden mit einem Kursli in der Clubschule. Sie ist Gabe Gottes und zugleich Frucht, die wächst aus einem hörenden Herzen. «Hörendes Herz», nicht «plapperndes Maul». Denken wir daran, wenn wir «Sternstunden» schauen… Nicht das ist Weisheit, viel reden können! Ein hörendes Herz. «Losen», nicht reden.
Ich erwähne sechs Eigenschaften der Weisheit, Eigenschaften, die im Alter leider nicht so selbstverständlich sind.
Selbstkritik: Ein weiser Mensch meint nicht mehr, er sei das, was er denkt und fühlt. Er weiss, dass Gedanken und Gefühle kommen und gehen, dass er sich schon oft geirrt und getäuscht hat . Weisheit: Distanz zu sich selbst.
Annahme: Ein weiser Mensch nimmt die Welt und das Leben, wie sie sind, ohne «bugere», beurteilen (gut-nicht gut), verurteilen. Ohne rezeptlen, was man daran «schrüblen» sollte. Einfach hinschauen und annehmen: Es ist, wie es ist, und ich muss es nicht mehr ändern.
Wertschätzung: Ein weiser Mensch sieht, was gut ist und kann dafür danksagen. Ich sehe jeweils sofort, was fehlt und was falsch ist, aber Weisheit schaut instinktiv auf das, was ist und was gut ist. Sie sieht in jedem Menschen das Abbild des Schöpfers. Sie erkennt den guten Willen, die gute Absicht und würdigt sie.
Verständnis: Ein weiser Mensch weiss, wie viel schief gehen kann bei allem Gutwollen und Gutmeinen. Weisheit weiss; wie schwer das Leben ist; wie wenig man dazu beitragen kann, dass es gut kommt; dass viel einfach Glück ist, oder aber Pech. Weisheit wird milder. Die Bibel sagt vom Wein: «Der Alte ist milder.» Kinder sind gern bei Weisen.
Versöhnung: In einem langen Leben gibt es immer öpper, wo zleidwerchet, bescheisst und verleumdet. Auch ein weiser Mensch spürt Wut im Bauch und möchte sich rächen und strafen. Aber er gibt das Vergeltungsbedürfnis nach oben ab: «Es ist deine Sache, Gott, diesem Chog einmal zu zeigen, wie gemein er war.» Versöhnung ist nicht gutheissen, was schlecht und bös ist, aber verzichten auf eigenhändiges Umegä. Wenn Versöhnung schön ist, ist sogar Verständnis für den Täter dabei, vielleicht sogar die Erkenntnis, dass man selber nicht viel besser ist. Aber Vergebung muss nicht schön sein, sie muss nur sein. Fehlt sie, so kehrt die Weisheit wieder um vor der Tür.
Heiterkeit: Ein weiser Mensch hat Lächeln als Grundstimmung. Er ist nicht verbittert. Er hat eine Zuflucht in der Stille, einen Ort in seinem Herzen gefunden, wo alles gut kommt. Natürlich hat er seine Sorgen und Ängste, aber er kann sie abgeben an einen, der helfen kann. Er ist auch daran, Verantwortung für diese Welt abzugeben, er wird ja bald abreisen und weiterziehen. Hier ist nicht mehr seine Welt. Das gibt ein heiteres Herz. Ein Witzbold muss man nicht sein, aber mildes Lächeln güxlet aus Runzeln und Falten.
2. Wozu Weisheit?
Geht es euch wie mir, so denkt ihr wohl: Ups, da habe ich noch viel zu lernen. Aber für was? Lernen ist doch anstrengend! Stimmt, besonders im Alter. Synapsen und Neuronen sind bei Jungen von selbst im Lern-Modus. Ich erinnere mich: Mit 15 lernte ich drei alte und zwei neue Sprachen, Bio, Geo, Geschichte und Math (hat nicht geklappt), daneben Rudern, Chorsingen, Theaterspielen und Flirten (hat auch nicht geklappt, zum Glück). Wie schaffte ich das alles? Ein junges Hirn macht das mit links. Sein Ziel ist es, ein bequemes Leben zu erschaffen, damit es dann nie mehr lernen muss. Also schnell und viel lernen, dass man das Leben bequem schafft – dann geistig abhängen. Das ist leider Normalprogramm. Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr. Wenige Glückliche sind von Natur aus neugierig und lernen gern. Aber wir anderen müssen uns ständig anspornen wie einen müden Gaul.
Und immer meldet sich der müde Maudi: «Für was?» Es braucht starke Motivation, um den von Natur trägen Menschen zum Lernen zu bringen. Für was!? Der säkulare Mensch, der Mensch ohne Gott, hat glaub nur eine Antwort: «Wenn du tapfer lernst, wirst du vielleicht etwas später dement». Schwache Motivation!
Es gibt natürlich eine bessere, die wahre Motivation, aber da betreten wir die Religion. «Expecto ressurectionem mortuorum et vitam venturi saeculi.» Ich erwarte die Auferstehung der Toten und das Leben der kommenden Welt. Ich bereite mich hier vor auf das Unendliche, das kommt.
Für was soll ich mich um Weisheit bemühen? Weil’s nicht fertig ist mit dem Friedhof. Auf dem Friedhof nehmen wir Abschied von unserem lieben Reittier. Wir selbst aber reisen weiter, in eine überdimensionale, unvorstellbare Welt. Und dort braucht es Weisheit. Wir sind auf dieser materiellen Welt, um Weisheit zu lernen, auch für nachher! Fahrausweis, Diplom und Bitcoin nützen drüben wenig. Dort braucht es Weisheit. Diese Fähigkeiten sind auch hier das Geheimnis glücklicher Menschen, und für das nächste Leben sind sie entscheidend. Darum lohnt sich die Anstrengung, Weisheit zu suchen auch im hohen Alter.
3. Wie kommt man zu Weisheit?
Wie gesagt: Weisheit ist Gabe Gottes. Das heisst 1., man bittet täglich die höhere Macht um Weisheit.
Und 2. man entwickelt ein «hörendes Herz». Stille suchen. Schweigen. Wenn wir uns ständig mit Belanglosigkeiten aufregen, mit Infos zumüllen, die eigentlich für die Katz sind und Expertenmeinungen konsumieren, bis einem die Ohren wackeln, flieht die Weisheit flieht. Sie ist nicht auf TV, Tiktok, Netflix, Facebook. Das wäre, wie wenn eine Horde Jugendlicher mit lauter Handymusik durch den Wald grölte. Die sehen nie ein Reh!
Weisheit liebt Stille und das hörende Herz. Auf die Natur und auf Menschen «losen», ohne Kommentar. «Losen», ohne sich Gedanken zu machen. «Losen», ohne zu beurteilen. Nur da sein und «losen», staunen, ahnen, spüren. Das tut der Weisheit die Tür auf. Sie kommt dann irgendwann, ohne Anmeldung, ohne zu läuten und ist aufs Mal da, gehört plötzlich zur WG, wie wenn sie schon immer dagewesen wäre.
Ruedi Heinzer, General Guisanstr. 17, 3700 Spiez, ruedi.heinzer@gmx.ch; www.ruediheinzer.ch