Predigt Juli 2022
Jesus von Nazareth trat mit einer verblüffenden Ansage an die Öffentlichkeit: Es ist soweit! Was die heiligen Schriften prophezeiten: Jetzt kommt es endlich!
Jesus verkündete in Galiläa die frohe Botschaft Gottes. Er sagte: »Die Zeit ist gekommen! Das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um und vertraut dieser Auskunft!« Anders übersetzt: «Die Zeit ist erfüllt. Jetzt bricht Gottes Herrschaft an. Glaubt mir das und ändert euer Leben!»
In Nazareth steht Jesus im Gottesdienst auf und liest aus dem Propheten Jesaja die bekannte Messias Prophezeiung: «Der Geist Gottes ruht auf mir. Er hat mich gesandt, Armen gute Neuigkeit, Gefangenen die Freiheit und Blinden das Augenlicht zu bringen.» Dann sagt er: «Hier und jetzt ist das erfüllt.» Das ist so unerhört dreist und anmassend, dass die Leute ihn aus der Synagoge jagen und einen Hang hinunterstürzen wollen. Er schreitet dann mitten durch die Menge und zieht weiter.
Wie kann denn eine beglückende Ansage so irritieren, eine frohe Botschaft dermassen Wut erregen? Können wir das nachvollziehen? Stellen wir uns vielleicht vor, ich würde hier sagen: Was Ihr schon immer erhofft habt, worum Ihr betet und worauf Ihr sehnlich wartet, das kommt jetzt, heute oder morgen! «Wo denn, wann denn, wie denn?» würdet ihr fragen. «Wo ist Frieden für die Ukraine, Regen für die Wüste, Weizen für die Hungernden, Freiheit für die Unterdrückten!? Geh uns aus dem Weg mit deiner ‘guten Nachricht’! Wir sehen nichts.»
Wie wollen wir heute mit der Ansage Jesu umgehen, Gottes Reich sei nahe? Ich sehe zwei Möglichkeiten. Entweder hat sich Jesus getäuscht. Vielleicht sah er etwas Kommendes, wie Propheten eben Dinge sehen, aber im Zeitrahmen hat er sich getäuscht. Was er sah, wird erst nach vielen Generationen eintreffen, wie andere Prophezeiungen der Schrift.
Oder aber, zweite Möglichkeit: Was Jesus sah und ankündigte, das Reich Gottes, ist etwas ganz anderes, als wir darunter verstehen. Es wäre also tatsächlich etwas Unerhörtes gekommen, aber nicht, was Menschen erwarten. Sie vermuten: Ich neige zu dieser zweiten Möglichkeit. Das Reich Gottes, was immer Jesus damit meint, ist wahrhaftig gekommen, ist längst da und verändert die Welt. Aber es ist «nicht von dieser Welt», es ist geistlich, für gewöhnliche Touristen auf diesem Planeten nicht ohne Weiteres erkennbar.
Auf dem Tisch steht eine Schüssel mit einem Tuch darüber. Die Kleine kommt und fragt: «Was ist das?» Mutter sagt: «Brotteig, er muss jetzt aufgehen» und erklärt, wie unzählige kleine Hefetierchen winzige Gasblasen produzieren und den Teig luftig machen. Die Kleine lüpft das Tuch und starrt lange in die Schüssel: «Man sieht aber nichts!»
«Womit soll ich das Reich Gottes vergleichen? Es ist wie ein Sauerteig, den eine Frau unter einen grossen Trog Mehl mischte, bis das Ganze durchsäuert war (Lukas 13,20).» Ist der Sauerteig, die Hefe, mal im Teig, ist der Teig nicht mehr derselbe wie vorher; aber man sieht lange gar nichts.
Mit dem Reich Gottes verhält es sich ähnlich wie mit dem Kommen des Messias. Der Erlöser der Menschheit ist in Jerusalem am Kreuz gestorben. Und man hat geschrien: «Bist du wirklich der Messias, so rette dich jetzt selbst und steig vom Kreuz herab!» Man erwartete einen gewaltigen Herrscher. Aber gekommen ist der König der Herzen, voll Gnade und Wahrheit. Er schreit nicht herum auf der Strasse, er löscht den glimmenden Docht nicht, ja er verteidigt sich nicht einmal vor Gericht. Wir hören «Reich Gottes» und schauen aus nach flatternden Fahnen, Pauken und Trompeten; Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Aber das Reich Gottes ist anders.
Wie denn? Wir mussten viel Theologie lesen über das Reich Gottes, wohl gut tausend Seiten. Nun bin ich alt und denke: Man kann auch zu viel Worte machen über das Reich Gottes! Jesus spricht nur in kurzen Gleichnissen davon. Nie definiert er, nie beschreibt er logisch verständlich, was Reich Gottes ist. Offenbar genügt es, zu hören: «Die Zeit ist erfüllt. Gottes Reich ist nahe.» Auf diese Weise stellt sich natürlich jedes von uns etwas leicht anderes vor. Macht nichts, gehört dazu! Wichtig ist nicht, was Ihr euch vorstellt. Wichtig ist, was Gott tut.
Selten einmal öffnet Gott uns die Augen und wir sehen Wunder: Menschen geben Fehler zu, bereuen ihre Sünde, schliessen Frieden. Angst vor dem Richtergott weicht der Freude über die Erlösung. Liebe wächst, wo Gleichgültigkeit war. Mächtige, die naturgemäss auf Herrschen aus sind, fangen an zu dienen. Liebe! Das Reich Gottes ist Liebe. Könnte man doch nur mehr sehen davon!
Steigen Sie auf einen Aussichtspunkt, so finden Sie oft eine Orientierungstafel. Wir waren kürzlich auf dem Chasseron. Die halbe Schweiz liegt zu Füssen, vom Schwarzwald zur Alpenkette. Die Orientierungstafel sagt, wie es ist. Hier die Rigi, da der Titlis, dort Schreckhorn, Matterhorn. Aber man sieht nichts! Entweder man steht eh im Nebel, oder Wolken kaschieren die Berge, oder es herrscht undurchsichtiger Dunst. Ich mag mich an keine Aussicht erinnern, die ich so gesehen hätte, wie die Tafel versprach. Ist die Tafel falsch? Ist sie überflüssig? Nein, sie wird schon Recht haben: Dort wäre die Rigi und hier das Matterhorn. Aber ich sehe nichts.
Mit Religion geht es mir leider ähnlich. Mit dem Reich Gottes, mit dem Retter, der die Welt erlöste, dem alle Macht gegeben ist im Himmel und auf Erden. Ich lehne nicht ab, was die Schrift sagt. Ich sage nicht, Religion sei für die Füchse. Aber ich kann selten sehen, was Jesus so deutlich sieht: Gottes Reich mitten unter uns. Der Satan besiegt und aus dem Himmel geworfen. Jedes Haar auf meinem Haupt gezählt. Gott schenkt, was wir im Namen Jesu erbitten. Ich sehe es nicht, ich bin sehbehindert für geistliche Wirklichkeit!
Natürlich, sagt Ihr, das ist menschlich, normal. Ja, aber es ist auch traurig. Jesus muss sehr darunter gelitten haben, dass wir Zweibeiner die Wirklichkeit nicht wahrnehmen, in der er lebt. Einmal rief er laut: «O ihr ungläubigen und verkehrten Menschen! Wie lange muss ich noch bei euch sein; wie lange muss ich euch noch ertragen (Mt 17,17)?»
Ich schlage vor: Suchen wir Anzeichen des Gottesreiches im eigenen Leben! Sammeln wir Szenen der Liebe. Schauen wir aus nach Gerechtigkeit, Grossmut, spontaner Hilfe und echtem Mitleid. Konzentrieren wir uns darauf, Gottes gutes Wirken in der Welt zu entdecken und davon zu reden. «Sucht zuerst Gottes Reich und seine Gerechtigkeit; und alles andere wird euch dazu gegeben.»
«Sucht zuerst!» Wir müssen wissen, was wir suchen wollen. Es macht allen Unterschied im Leben, worauf wir bewusst unsere Aufmerksamkeit richten. Wer den Teufel sucht, wird ihn finden, und wer Dummheit sucht, wird gewiss auch fündig.
Zudem sagen uns die Psychologen, wir seien darauf programmiert, das Gefährliche, Schädliche, Negative zu suchen. Natürlich, das ist nötig, darum sind wir noch am Leben. Wir müssen argwöhnen, das Rascheln im Gebüsch könnte eine Schlange sein. Wir müssen damit rechnen, Motorenlärm könnte von einem Fahrzeug sein, das auf uns zu rast. Wir müssen die Gefahren der Welt im Auge behalten. Alles andere wäre Leichtsinn. Und wir machen das ja auch automatisch. Die Medien helfen und malen uns täglich vor Augen, was für tödliche Gefahren uns an den Kragen wollen. Aufs Negatives sind wir programmiert. Doch aus diesem inneren Programm wird leider eine klebrige Gewohnheit. Ich mache die Erfahrung: Meine Gewohnheit, überall Negatives zu sehen, zu warnen und zu schimpfen wird mit jedem Jahr schlimmer. Es ist bald nicht mehr lustig, mit so einem alten Schwarzseher und notorischen Meckerer zu leben.
Da ist der wichtige Kontrapunkt: Suche zuerst Gottes Reich und seine Gerechtigkeit! «Geh aus, mein Herz, und suche Freud!» Suchen wir vor allem das Reich Gottes in der Welt, wie man Pilze sucht. Sie wissen: Man kann ewig durch Wälder streifen ohne Pilze zu sehen, höchstens mal einen knallroten Fliegenpilz, weil die Aufmerksamkeit nicht auf Pilze ausgerichtet ist. Aber auch wenn man keine sieht: Pilze sind trotzdem da, verborgen als Myzel im Waldboden, lebensnotwendig für den Wald. Man muss bewusst suchen und wissen, was man sucht. Es gibt gewiss Tage, da findet man nichts. Ein echter Pilzler lässt sich davon nicht entmutigen. Gibt es halt heute Käse- statt Pilzschnitte. Wir suchen später weiter.
Wer sucht, der findet, verspricht Jesus. Wer Gottes Reich sucht, wird es finden. Gott wird uns die Augen öffnen, dass wir sehen – vertrauen wir darauf! Weil Gottes Reich mitten unter uns ist, wollen wir es unverdrossen suchen.
Ein Kommentar
Lieber Ruedi, hervorragend ich höre mir des öfteren solche und ähnliche Berichte auf english ! Ich habe eben mehr english sprachige Freunde!