Ich habe vorhin feierlich gefragt: Seid ihr bereit, euer Kind im Vertrauen auf Jesus Christus aufzuziehen? Was hätte ich wohl gemacht, wenn Vater Nicolas gesagt hätte: «vielleicht»?! Es gibt Situationen, wo das nicht geht, wo man ja sagen muss. Wie auch bei einer Trauung. Aber das ist selten. Normalerweise ist es ein Geschenk, dass wir das Wörtlein «vielleicht» haben. «Vielleicht», sagte Carl Julius Weber, «ist das wahrste Wort unserer Sprache».
Auch in der Bibel finden wir das «Vielleicht» an prominenten Stellen, etwa bei vielen Propheten, deren Sprache sonst eher kantig und schwarz-weiss ist. Wir hören eine Stelle aus Joel, 2,12-14. Der Prophet sieht den Feind daherkommen mit einem riesigen, unbesiegbaren Heer. Jerusalem erzittert vor Angst, da ruft er dem Volk zu:
«Aber auch jetzt noch – spricht Gott – Kehrt um zu mir von ganzem Herzen mit Fasten, Weinen und Klagen. Zerreisst eure Herzen, nicht eure Kleider und kehrt um zu eurem Gott! Denn es heisst von ihm: «Gnädig und barmherzig ist er, langmütig und reich an Güte. Verhängt er Unheil, so reut es ihn.» Vielleicht kehrt auch er um, es reut ihn, und er lässt Segen zurück.»
«Vielleicht kehrt auch Gott um». Ein theologisches «Vielleicht», das ich gern näher betrachten möchte.
Aber vorher – fürchte ich – haben wir ein Hühnchen zu rupfen mit diesem Propheten. Bringt er nicht wieder die alte religiöse Leier, die uns so ärgert? Wenn ein Unglück geschieht, heisst es sofort, das sei nun die Strafe für menschliche Sünden. Stimmt. Die Propheten verkünden alle einen Gott, der vom Himmel herabschaut und aufpasst, ob seine Menschen die Gebote halten. Wenn nicht, schaut er eine Weile zu, bis das Fass voll ist. Dann aber straft er: Krieg, Pest, Hochwasser, Erdbeben. Dieses Denken findet man auch bei Jesus, und es war die offizielle christliche Lehre. Erst ab 1755, nach dem verheerenden Erdbeben von Lissabon, begann man diese Theologie vom belohnenden und strafenden Gott zu überdenken. Seither gibt es keine einfachen Antworten mehr. Wenn Schlimmes passiert, wissen wir nicht mehr, was Gott damit zu tun hat. Es bleibt uns nur noch ein zaghaftes «vielleicht».
Das Sünde-Strafe-Denken der Propheten lehnt man heute ab. Zu einem solchen Gott können wir nicht mehr Beten. Generationen von Theologen haben versucht, das Sünde-Strafe-Denken aus der Bibel auszumisten. Anscheinend mit Erfolg. Es gibt höchstens noch einige Sektenbrüder, die meinen, AIDS sei eine Strafe Gottes. In einer Kirche hätte man das nie hören können! Somit wäre also der zornig strafende Gott endgültig vom Tisch und unsere Kinder hören nur noch jugendfreie Geschichten vom Guten Hirten. Meinen Sie?
Es ist vielleicht nicht so einfach. Stellen Sie sich vor: Jemand kommt von der Blutprobe und macht einen Lätsch. Blutzuckerspiegel ist zu hoch. Unheil droht: Diabetes. Und nun spielt der Onkel Doktor Prophet: «Über Jahre zu viel Süsses, das ist Sünde. Strafe kommt. Kehren Sie um! Sie essen nur noch Vollkorn und Quinoa, trinken Wasser wie das liebe Vieh. Sie reissen sich zusammen und treiben doppelt so viel Sport!»
Was ist denn das? Wie beim Propheten: «Kehrt um mit Fasten, Weinen und Klagen.» Vielleicht kriegen wir den Blutzucker wieder in den Griff. Oder nehmen Sie «Klimawandel». Milliarden Zweibeiner wollen Erdöl verbrennen, in der Luft herumfliegen und täglich Fleisch fressen. Mutter Erde nimmt das krumm! Sie macht Fieber, überhitzt. Gletscher schmelzen, das Meer steigt, Stürme werden katastrophal. Kehrt um! Vielleicht kann man den Klimawandel aufhalten, wenigstens bremsen? Vielleicht lässt Mama Erde sich das Unheil gereuen…?
Ich kenne dieses Muster seit Kindsbeinen: Sünde, Strafe, wenn du dich besserst, vielleicht…! So wurde ich erzogen. Ich finde, einigermassen erfolgreich. Das Sünde-Strafe-Muster kann nicht total daneben sein.
Im Juni wanderten wir nach dem Sünde-Strafe-Muster: Wir schlugen einen Weg ein, einen linden, gäbigen Weg, genau in die Richtung, wo wir hinwollten. Allerdings ohne Wandermarkierungen. Plötzlich standen wir an einem bröckelnden Abgrund, schauten in die Tiefe und kratzten uns am Kopf. Da kehrten wir halt um, contre coeur. Der andere Weg, steil bergauf, war markiert und führte unter zünftigem Schwitzen zum Ziel. Immer noch das Sünde-Strafe-Muster, einfach ohne Moral, erkennen Sie es?
Wir brauchen im Grunde dasselbe Muster in der Technik, in der Kybernetik. Dort nennt man es einen Regelkreis. Gott hat uns den Regelkreis einprogrammiert, uns und allen Säugetieren. Darum kann man uns erziehen. Es gibt Insekten, denen fehlt der Regelkreis. Manchmal fliegt eine Hornisse stracks in unsere Fensterscheibe: Bumm. Wir schrecken auf: Was ist das? Drei Sekunden später: Bumm. Dann wieder Bumm, und so weiter. Es muss den Viechern so weh tun, aber umkehren und einen andern Weg probieren können sie nicht, sie fliegen jetzt da durch, «nie vor Gefahren bleich, Schmerz uns ein Spott»! Der Regelkreis aber würde sagen: Das tut weh, also ist es ein Holzweg. Kehr um und probier etwas anderes.
Dieses Muster, dieser Regelkreis ist ein Segen! Dank ihm können wir überhaupt lernen und sind nicht verdammt, ewig die Gleichen zu bleiben. Dank dem Regelkreis in unseren Genen gibt es überhaupt Fortschritt! Man kann und soll dieses Prophetendenkmuster nicht verteufeln. Wenn etwas krumm läuft, ist es weise und vernünftig zu fragen: «Was habe ich falsch gemacht»? Es würde uns vielleicht allen guttun, einmal mehr als weniger zu fragen: Habe ich etwas falsch gemacht?
Die Frage ist gut, für mich! Es ist eine persönliche Frage, zwischen mir und meinem besten Freund im Himmel. Es ist aber keine Frage, mit der ich meinem Nächsten in den Wunden stochern soll. Und heutzutage ist es bedauernswerte Dummheit, wenn ich mit diesem Muster die Welt erklären will. Die schlimmen Dinge, die in unserer Welt passieren, sind nicht Strafe Gottes. Was sie wirklich sind, die schlimmen Dinge, sollen wir offenbar nicht erfahren, solange wir uns die Nase putzen. Aber für meinen privaten Notfall verzichte ich nicht auf die Prophetenstimme, die leise fragt: Was ist falsch gelaufen? Kehr um, bete zu Gott und mach es besser. Vielleicht….
«Vielleicht kehrt Gott um, vielleicht reut es ihn». Das ist natürlich symbolisch gesprochen, als Bild, als Vergleich. Gott ist kein Mensch und muss nichts bereuen. Aber wenn die Bibel Gott beschreiben darf wie einen Menschen, kann sie die Hoffnung rüberbringen, die wir zum Leben brauchen. Auch Gott kann es sich noch einmal überlegen und alte Beschlüsse umstossen, zugunsten von seinem Volk. Und er tut es vielleicht, es ist gut möglich; denn in alter Zeit hat er sich mit diesem Wort offenbart: «Gnädig und barmherzig ist Gott, langmütig und reich an Güte.» Hier gibt es kein «vielleicht». Das gilt durch Not und Tod hindurch.
Die Bibel erzählt oft, wie Menschen Gott umstimmen konnten. Beispiel: Das Volk Gottes macht sich einen Götzen, das goldene Kalb. Der wahre Gott wird unheimlich zornig und will sein Volk vernichten. Mose aber bittet um Erbarmen und versucht, Gott zu besänftigen. Und es heisst: «Da liess sich der Herr das Böse reuen, das er seinem Volk angedroht hatte.»
Anderes Beispiel: König Hiskija ist todkrank. Der Prophet Jesaja kommt, sagt: «Ordne deine Erbschaft, mit dir geht es zu Ende», und geht wieder. Da weint der König jämmerlich und betet um Erbarmen. Und Gott schickt Jesaja zurück und lässt ausrichten: «Ok, ich gebe dir noch 15 Jahre.»
Ich denke, niemand von uns möchte das Bild vom zornig strafenden Gott behalten und übers Bett hängen. Ich verstehe das. Aber wir haben ein Problem. Wenn die Not einfach eine unvermeidliche Folge von eiskalten Naturgesetzen ist, so gibt es keine Hoffnung. Du hast 20 Jahre geraucht. Schatten auf der Lunge. Nun kommt halt, was kommen muss. Das ist unheimlich hoffnungslos! Naturgesetze kann man nicht umstimmen. Aber einen zornigen Gott. Weil er im Grunde gnädig und barmherzig ist, kann man seinen Zorn besänftigen. Das erlaubt Hoffnung! Keine Not ist aussichtslos, weil Gott umdenken kann.
Gewiss, Sie wollen wohl keinen zornigen Gott. Aber behalten Sie wenigstens sein «Vielleicht». Es ist gewiss nicht logisch. Bibelgeschichten wollen nicht logisch sein. Sie bringen eine einzigartige Botschaft des Lebens, das selber ja nie logisch ist: Unheil kann in Segen umschlagen! Kehr um zu Gott, bete und ändere dich, vielleicht…! Im «Vielleicht» steckt Energie zur Veränderung, liegt die Hoffnung, die uns trägt.
Wenn Prinzessin Hoffnung sich unters Volk mischt, legt sie den Schmuck ab und kommt verkleidet im Werktagsgewand «vielleicht». Das Gottvertrauen nennt sich «vielleicht», wenn es inkognito bleiben möchte. Vielleicht können Sie nicht glauben, dass es Gott gibt. Aber sie können sagen: Vielleicht gibt es ihn und vielleicht erbarmt er sich unser. Lassen Sie sich dieses Vielleicht nicht rauben! (Predigt Scherzligen 2016)