«Der ins Verborgene schaut» Mt. 6,1-6

Liebe Gemeinde,

der heutige Predigttext drängte sich mir förmlich auf. Er war letzte Woche in meiner Bibellese; ein Wort von Jesus. Wir kennen es wohl alle, ich kenne es längst, aber erstaunlicherweise war ich gerührt, als ich las: «Dein Vater, der ins Verborgene sieht, wird es dir vergelten.» Dreimal sagt es Jesus. Offenbar rührt dieses Sätzchen ans Herz meines Lebens! Da muss man doch mal dazu predigen.

Jesus sprach zu seinen Jüngern: »Hütet euch, eure Frömmigkeit vor Menschen zur Schau zu stellen! Denn dann habt ihr keinen Lohn mehr von eurem Vater im Himmel zu erwarten.«

»Wenn du also einem Bedürftigen etwas spendest, dann häng es nicht an die große Glocke! Benimm dich nicht wie die Scheinheiligen in den Synagogen und auf den Straßen. Sie wollen nur von den Menschen geehrt werden. Ich versichere euch: Sie haben ihren Lohn schon kassiert. Wenn du also etwas spendest, dann tu es unauffällig, dass deine linke Hand nicht weiß, was die rechte tut. Dein Vater, der auch das Verborgene sieht, wird dich dafür belohnen. Wenn ihr betet, dann tut es nicht wie die Scheinheiligen! Sie beten gern öffentlich in den Synagogen und an den Straßenecken, damit sie von allen gesehen werden. Ich versichere euch: Sie haben ihren Lohn schon kassiert. Wenn du beten willst, dann geh in dein Zimmer, schließ die Tür zu und bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist. Dein Vater, der auch das Verborgene sieht, wird dich dafür belohnen.«

Was mich berührt, ist die Zusage unseres Meisters: «Dein Vater», «er sieht das Verborgene» und «er wird dir vergelten». Das soll heute mein Thema sein. Aber zuvor Wissenswertes zu diesen Worten, die nur Matthäus uns überliefert. Hier wird überdeutlich: Jesus war ein jüdischer Rabbi. Er sprach zuerst zu seinen Mitjuden. Er bringt keine neue Religion. Aber er reformiert die jüdische Religion, reinigt sie von Fehlentwicklungen. Spenden – beten – fasten. Das waren die drei Pfeiler jüdischer Frömmigkeit. Zum Fasten sagt Jesus dasselbe wie zum Spenden und Beten, ich lasse es weg um der Kürze willen. Später kam als vierter Pfeiler das Sabbatgebot hinzu. Für Jesus war dies Frömmigkeit: Spenden, beten, fasten. Spenden (Almosen geben) kommt zuerst, sympathisch! Im Christentum wurde das Glauben zum Fundament der Religion, «glauben», «vertrauen», eine unsichtbare, seelische Regung. Glauben ist schwieriger, nicht wahr. Spenden, beten, fasten – das kann man machen, das ist praktisch, einfach, handhabbar.

Spenden, beten, fasten – gute Frömmigkeit also, sagt Jesus, erhält von Gott ihren Lohn. Aber du musst sie im Verborgenen pflegen, nicht vor den Menschen. Du musst so spenden, dass deine Linke nicht weiss, was deine Rechte tut. Beten sollst du allein, im Stillen Kämmerlein, in der Speisekammer, dem einzigen Raum des Hauses, den man damals zuschliessen konnte. Und du sollst auch abschliessen, bevor du betest. Niemand soll dich beten sehen, du betest zu Gott, ja nicht zu den Menschen. Fasten sollst du so, dass niemand es dir ansieht. «Salbe dein Haupt», mach dich hübsch und lächle! Niemand soll dir anmerken, dass du gerade am Verzichten bist.

Warum ist wichtig, dass Frömmigkeit verborgen bleibt? Jesus argumentiert mit einem zentralen jüdischen Begriff: mit dem Lohn. Gott belohnt Frömmigkeit. Brauchst du allerdings deine Frömmigkeit dazu, um dich in ein gutes Licht zu stellen, hast du im Himmel nichts mehr zu erwarten. Du möchtest natürlich zeigen, wie gut du bist. Spenden und ausposaunen. Der clevere Manager weiss: «Do good and talk about it!», Gutes tun und davon reden. Nützt dem Geschäft. Sicher, sagt Jesus, aber dann hast du deinen Lohn ja schon. Von Gott musst du nichts mehr erwarten. Wenn Menschen von dir sagen: Das ist ein ganz guter Typ, ein guter Christ, dann ist das dein Lohn. Du hast dir einen guten Ruf erarbeitet; der ist etwas wert. Gott aber belohnt gute Taten, die niemand sieht. «Dein Vater, der ins Verborgene sieht, wird dir vergelten.»

Irgendwie ist nun diese biblische Idee vom Lohn im Himmel in Ungnade gefallen, nicht wahr? Wir spenden doch nicht, weil wir dafür Lohn erwarten! Wir beten doch nicht, damit Gott uns dafür entschädigt. Sind wir denn religiöse Krämer? Wir wollen Gutes tun um des Guten willen, auch wenn wir nichts dafür bekommen. Wir geben einem Durstigen den Becher Wasser, weil wir wissen: «Was wir einem der Geringsten getan haben, haben wir Christus selbst getan.» Die gute Tat trägt doch ihren Lohn in sich selbst. Eine Liebe, die Belohnung, Bezahlung erwartet, ist doch keine Liebe, sondern reiner Eigennutz. Vielleicht sogar Prostitution.

So denken wir gern, nicht wahr? Das ganze Leben nehmen wir allerdings gern Lohn für unsere Leistung. Sogar die Superreichen lassen sich heute Jahr für Jahr von der Aktionärsversammlung ihren Lohn und die Boni beschliessen. Der Lohn hat nichts Anrüchiges mehr, wie früher: «Syt dr öpper, oder nämet dr Lohn?» Aber in der Ethik, in der Religion rümpfen wir dafür zünftig die Nase, wenn jemand belohnt werden möchte für seine gute Tat. Könnte es sein, dass wir da mit zweierlei Mass messen? Verwechseln wir vielleicht unsere hehren Gedanken mit unserer Wirklichkeit? Wir denken, wir sollten das Gute tun um des Guten willen, und nicht um dafür Dank oder Gegenleistung zu erwarten. Aber ich erinnere mich an bittere Gesichter von Eltern, weil ihre Kinder keinerlei Dankbarkeit zeigten; an eine herb enttäuschte Frau, die jahrelang ihren Partner pflegte und dann im Testament übergangen wurde. Überschätzen wir uns, wenn wir meinen, wir könnten Gutes tun ohne dafür eine Gegenleistung zu erwarten? Wozu betest du? Hoffst du nicht, dass Gott dir antwortet? Wozu fastet jemand? Doch sicher wenigstens dafür, weil es gesund ist.

Vielleicht sollten wir den Lohn nicht so abschätzig behandeln. Für Jesus jedenfalls ist die Belohnung im Himmel für alle, die Gott fürchten und das Gute tun, eine Selbstverständlichkeit und gehört zum Kern seiner Religion. Und alle Apostel folgen ihm darin. «Denn Gott ist nicht so ungerecht, euer Tun zu vergessen und die Liebe, die ihr seinem Namen erwiesen habt,“ sagt der Hebräerbrief (6,10). Wenn nicht belohnt würde, wer das Gute tut, wäre Gott ungerecht. Es kann doch nicht sein, dass Hitler und Mutter Theresa gleichbehandelt werden! Wenn es einen Gott gibt, belohnt er die Guten. Können wir die Lohnfrage mal so stehen lassen? Wir nehmen zur Kenntnis: Jesus argumentiert mit dem Lohn, der denen versprochen ist, die recht leben.

Es ist nämlich nicht die Aussicht auf Lohn, die mir Augenwasser macht. Wohl aber die Zusage: «Dein Vater, der ins Verborgene schaut».

«Dein Vater». Der Unfassbare, von dem du das Leben hast, der wollte, dass es dich gibt, er ist «dein» Vater. Falls das Wort «Vater» weh tut, nimm das Wort «Mutter». Ich bleibe einfachheitshalber beim Wort Jesu: «Dein Vater». Mir fällt auf: Jesus sagt hier nicht «unser Vater», auch nicht «euer Vater», wie am Anfang seiner Rede. «Dein Vater». Dein Vater schaut auf dich im Verborgenen. Von Gott redet man ja so oft abstrakt, in allgemeinen Worten: Der Schöpfer des Alls, der Vater der Menschheit, die Tiefe des Seins. Das mag seine Berechtigung haben. Wir können von Gott eh nur in unzureichenden Sprachbildern reden. Aber hör, was Jesus dir sagt: «dein Vater». Der dich geschaffen hat, schaut zu dir wie eine Mutter, die ihr Kind im Schwimmbad nicht aus den Augen lässt. Er sieht dich, wo du dich verborgen hast, er schaut in deine geheimen Kämmerlein. Im ersten Buch der Bibel erlebt eine ausländische Magd, die mit ihrem Kind in die Wüste gejagt wurde, wie Gott ihr einen Brunnen zeigt. Hagar staunt und sagt: Das ist El-Roi, der «Gott, der schaut». Und Abraham nannte seinen Gott «Jahwe Jire», der Gott, der mich sieht. So hat Gerhardt gedichtet: «Du siehst dein Kind, wie oft es wein’ und was sein Kummer sei. Kein Tränlein ist vor dir zu klein, du hebst und legst es bei.»

«Dein Vater, der ins Verborgene schaut.» Zu unserem Weg zwischen Wiege und Grab gehören Schmerz, Verlust, Verzicht, Sackgassen, Irrwege: «Troubles». Haben Sie in der Jugend auch das Lied der geschundenen Negersklaven gesungen: «Oh, nobody knows the troubles I’ve seen»? Niemand weiss wirklich, was ich durchmache. Niemand hat wirklich eine Ahnung, wie es mir zuinnerst geht. «Nobody knows – but Jesus. Glory halleluja.» Einer sieht dich, und er wird dir vergelten, was du durchmachst, wird dich entschädigen für dein Leiden. Was könnte schönerer Trost sein als diese Zusage des Meisters?! Für mich ist es der Trost, der trägt: «Ich habe dein Gebet gehört; ich habe deine Tränen gesehen.» Gott sieht mich. Das ist der Urgrund meines religiösen Glaubens: Der mich geschaffen hat, schaut zu mir, er sieht mein Verborgenes. Das gibt Boden.
Leider nicht für alle. Die Vorstellung, dass Gott zu uns schaut, ärgert und ängstigt andere. Der Existentialismus etwa, der in meiner Jugendzeit blühte, fürchtet um die Freiheit des Menschen, wenn ständig Gottes Blick einen verfolgt. Der Mensch könne erst dann wahrhaft frei sein, wenn kein Gott ihm auf die Finger schaut. Das muss offenbar ein anderer Gott sein. Ein himmlischer Polizist und Stasi-Agent. Aber es heisst hier nicht: «Der unbestechliche Richter, der dein Verborgenstes sieht, wird dir alles heimzahlen.»

Wie das eherne Karma: Was immer du tust, es wird auch dir getan! Das ist schon kein Trost, eher eine höllische Drohung. Alles hängt also davon ab, wer Gott ist. Ob er «dein Vater» ist, wie bei Jesus, voll Gnade und Barmherzigkeit, der weiss, dass wir Staub sind und aus Liebe zu uns sein Liebstes hingibt. Nicht zufällig heisst es im Gospelsong: Nobody knows, but «Jesus», nicht «God»! Jesus, der sein Leben hingibt für die Menschen, er ist das wahre Abbild jenes Gottes, der mich im Verborgenen sieht. Er sieht meine Tränen, meine Sorgen, meine Schwierigkeiten. Natürlich sieht er auch meine Fehltritte, aber die versteht und vergibt er. «Er wird es dir vergelten» heisst bei Jesus zuerst: Er gibt dir den Lohn, den du verdienst.

Ich freue mich auf das Jüngste Gericht. Sie denken gewiss, jetzt wird er langsam senil. Nobody knows…, but Jesus. Aber es ist keine Alterserscheinung, ich freute mich schon immer auf das Gericht Gottes. Nicht weil ich ein so gutes Leben geführt hätte! Nein, bei mir werden mindestens so viele Bubenstücke ans Licht kommen wie bei Ihnen. Aber für meine Sünde hat der Sohn Gottes sein Blut vergossen. So sagt er seinen Jüngern im Abendmahl: «Mein Blut, vergossen zur Vergebung der Sünden.» «Lamm Gottes, der du trägst die Sünde der Welt.» Ich freue mich auf das Gericht, weil Jesus uns heute zusagt: Gott wird dir vergelten, was du im Verborgenen getan und gelitten hast.

Was haben Sie in Ihren geheimen Gewölben? Wovon weiss kein Mensch, weil Sie es nicht erzählen können, weil es eh niemand versteht? «Dein Vater» versteht. «Der ins Verborgene sieht, wird es dir vergelten.» Freude herrscht! Mein wahres Wesen kommt einmal ans Licht, ans Licht der Liebe und Barmherzigkeit. Nicht grelles kaltes Scheinwerferlicht, das blossstellt. Es sind die gütigen Augen deines Vaters, der dich ins Leben gerufen hat. Er will dir endlich geben, was du wirklich verdienst.

Ich freue mich aufs Jüngste Gericht, und ich stelle es mir nicht vor wie die Szene über dem Münsterwestportal, wie die brutale Gerichtsdarstellung an der Wand von Reutigen. Ich höre auf meinen Meister, wie er sagt: «Dein Vater, der ins Verborgene sieht, er wird es dir vergelten.» Es heisst nicht: Er wird es dir heimzahlen. Nein, Jesus redet vom Lohn, den wir alle verdient haben und den uns die Welt nicht geben kann und will. Mir kommt da der zweite Jesaja in den Sinn mit seiner Trostbotschaft. Dazu höre ich die Klänge von Händels Messias: «Tröstet, tröstet mein Volk, spricht euer Gott. Redet freundlich mit Jerusalem und ruft ihr zu: Deine Knechtschaft ist zu Ende. Deine Missetat getilgt. Siehe, da kommt euer Gott; er kommt gewaltig, und sein Arm wird herrschen. Siehe, was er gewonnen hat, ist bei ihm, und was er sich erwarb, geht vor ihm her. Er weidet seine Herde wie ein Hirt. Er sammelt die Lämmer gar sanft in seinen Arm und trägt sie liebend an seinem Herzen; er leitet die Schafe mit milder Hand“ (aus Jes 40). Ich freue mich. Aber ich habe nur einen Grund, mich zu freuen: Jesus. Niemand sonst macht mir Freude aufs Gericht; aber ihm glaube ich.

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